Donald Trump und der europäische Populismus

Man stelle sich einmal vor, im letzten Bundestagswahlkampf hätte der Parteivorsitzende der SPD, Sigmar Gabriel, seinem Kanzlerkandidaten Peer Steinbrück vier Wochen vor der Wahl jegliche Unterstützung entzogen und verlautbaren lassen: „Ich kümmere mich stattdessen um die Wiederwahl unserer direkt gewählten Abgeordneten“. Und niemand hätte sich darüber gewundert, nachdem Steinbrück doch die letzten 18 Monate damit zugebracht hatte, sich den Weg durch sämtliche Bevölkerungsgruppen zu pöbeln, jeden und jede PolitikerIn zu beleidigen und sich selbst als einzige Alternative aus dem politisch korrupten System der modernen Bundesrepublik zu erklären.

Ziemlich genau das passiert gerade in den Vereinigten Staaten. Der Präsidentschaftswahlkampf zwischen Hillary Clinton und Donald Trump sprengt nicht nur für europäische Beobachter alles bisher Vorstellbare, auch ein großer Teil der Amerikaner aus Wählerschaft und Politik kann kaum glauben, was sie bis zum 8. November diesen Jahres gesehen haben und noch sehen werden. Und doch, wie Veit Medick in einem sehr klugen Stück für Spiegel Online schreibt:

Welch eine Farce! Mehr als ein Jahr lang hatten die Republikaner Zeit, um herauszufinden, dass dieser Kandidat eine Schande für die Partei und das ganze Land ist. Trump hat Behinderte nachgeäfft und Frauen erniedrigt, er hat Flüchtlinge mit giftigen Schlangen verglichen und in Mikrofone gerufen, dass er Demonstranten gerne ins Gesicht schlagen würde.

Es ist nicht nur eine Entwicklung erst dieses Wahlkampfs, in Wahrheit ist die amerikanische Politik in den letzten fast zwei Jahrzehnten in einem immer stärker werdenden Strudel aus Populismus, aus Selbstdarstellung, aus Konsensverweigerung und simpler Blockade wie gefangen. Medick schreibt:

Das Chaos, in dem Trump jetzt steckt, ist die gerechte Strafe für eine Partei, die in Wahrheit schon seit Jahren orientierungslos durch die Politik geistert. Trump symbolisiert die Krise des amerikanischen Konservatismus. Diese Krise wird nicht einfach verschwinden. Weder jetzt. Noch nach der Wahl.

Diese Krise betrifft vielleicht nicht nur den amerikanischen Konservatismus, vielleicht sogar die westliche geprägten Demokratien an sich. Und so haben wir auch Varianten des Donald Trump in unserer eigenen direkten Umgebung, auch wenn uns dieser Vergleich nicht immer gleich einfallen. Aber ob es Marine Le Pen oder die Kaczyński-Brüder sind, Victor Orban oder Jörg Haider, Nigel Farage oder Frauke Petry: mal links, mal rechts blinkender, heftigster Populismus ist längst auch in Europa eine beständige Größe.

In den Erklärungsversuchen für die Aufstiege von Populisten wie den genannten werden neben vielen klugen Ansätzen auch immer wieder drei angebracht, die mir nur bedingt schlüssig erscheinen.

Die Medien geben Populisten gerade erst ihre Bühne

Auch hier wieder hat mich ein Artikel, diesmal von Mark Pitzke, auf Spiegel Online, erst richtig aufmerksam gemacht. Übrigens: Deren Wahlberichterstattung kann man 2016 gar nicht genug loben. Doch zum Text:

Tragen doch gerade die US-Medien beträchtliche Mitschuld am unseligen Aufstieg Trumps. Seit den Achtzigerjahren, als er nicht viel mehr war als ein aufgeföhnter Möchtegern aus Queens, haben sie ihn hofiert und gehypt, als Schlagzeilen- und Auflagengarant. Trump ist ein Geschöpf der Medien, besser: ihre Missgeburt. Nun sehen sie sich zu schmerzhafter Introspektion gezwungen wie die ratlosen Eltern eines Amokläufers.

Auch in Amerika kein ganz neuer Vorwurf. Immer wieder kursierten Zahlen über das gewissermaßen kostenlose Werbebudget, das Donald Trump durch seine radikalen Äußerungen ergattert habe. Tatsächlich hat Trump so gut wie keine Werbeausgaben in seinen bisherigen Kampagnenmonaten angegeben; warum auch hätte er dieses Geld ausgeben sollen, wenn er einfach per Twitter oder vom Wahlkampfpodium neue Kontroversen anstoßen und so die gleiche Wirkung erzielen kann.

An dem Punkt ist ja etwas Wahres dran. Natürlich tragen die Medien keine Alleinschuld, selbstverständlich ist mediale Aufmerksamkeit an sich noch kein Garant für politischen Erfolg. Aber das Extreme macht immer mehr Schlagzeilen als das Moderate, Beleidigungen bringen mehr Auflage als Differenziertheit. Gleichzeitig hinkt jedenfalls der zweite Halbsatz auch wieder. Denn die Berichterstattung in den letzten beiden Wahlkämpfen hat auch den Hoffnungs und Change-Slogan von Barack Obama weit getragen. In der Medienkritik, der professionellen wie amateurhaften, ist das Grundproblem ja schon viel länger bekannt. Nicht erst in der Politik wird Selektivität beanstandet, auch in der Betrachtung von Welt und eigener Gesellschaft geht uns doch allen oft genug der Blick auf das Gute, Motivierende, Positive verloren. Es ist nicht nur den Medien, sondern auch uns als KonsumentInnen eigen, dass Sensationen sich stärker einbrennen als Bedächtiges. Daher ist es vielleicht richtiger zu sagen, dass Populismus nicht die „Missgeburt der Medien“ ist, sondern mindestens genauso unsere eigene. Und damit zu uns selbst:

Reife Gesellschaften sind nicht rechts

Es wird immer Extreme an den Rändern geben: Aus deutschem Blickwinkel mag man diesen Satz erstmal zu leicht abtun, schließlich waren unsere politischen Extreme noch bis vor wenigen Jahren verschwindend klein. Die NPD und vereinzelt die Republikaner waren die einzig wirklich extremen Parteien der Bundesrepublik und vereinten zusammen kaum 5 Prozent der Wahlbevölkerung auf sich. In anderen Ländern jedoch und in Deutschland auch seit der Entstehung der AfD bewegen wir uns stärker in die Richtung der 11 Prozent, die nach einem starken Führer rufen oder gar der bis zu 25 Prozent Ausländerfeindlichkeit; beides Zahlen, die die Friedrich-Ebert-Stiftung regelmäßig misst.

Dennoch gibt es einen deutlichen Unterschied zwischen 11-25 Prozent Extremen und den mehr als 50 Prozent, die für Donald Trump oder den Brexit stimmen (würden). Es muss etwas Größeres als latenter Rassismus und Autoritarismus sein, der das Aufstreben des Populismus in westlichen Demokratien begründet.

Nun mag man auch über die möglichen statistischen Fehler der Ebert-Studie spekulieren und detaillierte Untersuchungen über die Wählerschaft von Brexit-Befürworten und Trump-Anhängern stehen noch aus. Vielleicht hilft da ein Blick weg von den großen Zahlen, hin zu der Wählerschaft der AfD, über die in den letzten Monaten in Deutschland viel geredet worden ist. Denn dort sind mitnichten die Montagsmärschler und Volksverräter-Lautsprecher in der Mehrheit. Stattdessen reicht die Wählerschaft weit hinein in das, was man früher bürgerliches Klientel genannt hat. In meiner strukturkonservativen Heimat Mittelhessen, die sogar das an sich schon traditionell konservativ-agressive Hessen überflügelt – wir entsenden den Hetzer Hans-Jürgen Irmer in den Hessischen Landtag – hier gibt es eine Menge AfD-Unterstützer. Von denen distanzieren sich zwar auch erfreulich viele von den eindeutig rassistischen Äußerungen eines Bernd Höcke (sic!). Doch ohne diese klar braunen Anwandlungen, eine blaue Wählerschaft gäbe es hier in großem Maße.

Die Gründe für diese Sympathie sind vermutlich weit vielschichtiger, als man das vermutet. Klar war die Flüchtlingskrise ein Auslöser für den Aufstieg der AfD bei den letzten Wahlen und auch in den bundesweiten Umfragen. Aber nicht zu unterschätzen dürfte der Eindruck sein, dass man nun endlich eine Partei habe, die man mit Anstand wählen könne. Die Motive der einzelnen Sympathisanten müssen dafür nicht ausschließlich oder überhaupt die Flüchtlinge sein.

Und auch der zweite Ansatz, der der zumindest gefühlt ökonomisch Abgehängten, wird wieder nur eine Teilmenge der AfD-Unterstützer betreffen. Wieder im Blick auf meine Heimat lässt sich simpel feststellen, dass wir in einem wohlhabenden, kleinbürgerlichen Umfeld aufgewachsen sind, in einer hochindustrialisierten Wirtschaftsumgebung voller „Hidden Champions“ und Eigenheime mit Gartenhaus. Selbst die Kurzarbeit während der Finanzkrise hat hier kaum Existenzen bedroht. Und doch steigt die Unzufriedenheit mit der bestehenden Politik.

In beiden oben erwähnten Erklärungen geht man von einem beständigen Interesse an Politik aus, das mit der Zeit enttäuscht worden ist. Vertrauen, das noch vor 30 Jahren in die jeweilige politische Heimat gesetzt worden ist, sei verschwunden. Aber ist, wie im letzten Satz des vorigen Absatz geschrieben, die Unzufriedenheit mit der bestehenden Politik wirklich gestiegen? Oder ist nicht eher das Interesse der BürgerInnen an der Politik gestiegen, wird nicht der Informationsfluss heute bewusster zur Kenntnis genommen, stärker analysiert und begutachtet?

Blick zurück nach Amerika: Haben die AmerikanerInnen wirklich unter Kennedy oder Reagan, unter Carter oder Clinton aktiv am politischen Diskurs teilgenommen? Haben sie nicht vielleicht erst in den letzten 10, 15 oder 20 Jahre ihr Interesse an und die Fähigkeit sich mit Politik auseinanderzusetzen in breiter Basis gefunden? Und bei uns, sind dort nicht unter Brandt und Kohl die politischen Grundlinien zwar wohlwollend zur Kenntnis genommen worden, aber nie im Detail hinterfragt? Passen nicht auch die Widerstände gegen Gerhard Schröders Agenda 2010 und die andauernden Amtszeiten Angela Merkels ebenfalls in ein solches Erklärungsmuster?

Kurzum: Verortet man die politische Entwicklung einer Bevölkerung in der Skala eines Menschenlebens: Sind wir schon längst Erwachsene, lange geübt in der Auseinandersetzung mit Politik, oder nicht doch gerade erst in der Pubertät, mit allen erfreulichen und unerfreulichen Erfahrungen, die damit einher gehen?

Mit Wahlkampf ist Populismus nicht beizukommen

Bei manch Wahlanalysen nach dem erneuten AfD-Erfolg sehen wir die gleiche Ratlosigkeit wie die derzeitige der Amerikanischen Demokraten. Wir alle, die wir auf der „guten“ Seite der Politik zu stehen glaubenden, können nicht verstehen, wie es soweit kommen konnte, trotz Skandalen über Skandalen. Wir haben, so versichern wir uns gern selbst, doch alles getan, was in unserer Macht stand, um die ewig einfachen Antworten, die doch nie eine Frage lösen, zu bekämpfen. Und für jeden einzelnen Wahlkämpfer gilt das ebenso sicher wie für die KandidatInnen. Natürlich betreiben wir alle Wahlkampf mit Herzblut und wohl kaum ist mal einE KampagnenmanagerIn zwei Wochen vor der Wahl durch ihr Hauptquartier gelaufen und hat einen Haufen schlafende oder gelangweilte HelferInnen gesehen. Alle haben wir die Botschaft destilliert und dann unters Volk zu bringen versucht, sind doch unsere Argumente noch dazu die klar besseren als die der Gegenseite, wie wir uns immer wieder versichern.

Aber wir müssen eben auch die Perspektive einmal umkehren und uns ganz simple Fragen stellen: Wie viel Prozent der Wahlberechtigten haben wir eigentlich in diesem Wahlkampf erreicht? Die Zahlen werden schon nicht berauschend sein, wenn wir von Erreichen im Sinne eines einfachen Kontaktes, ob per Plakat, Werbespot oder Wahlkampfstand reden. Ein wie großer Anteil hat bewusst hingesehen oder hingehört, wenn auch nur für einen Augenblick? Dann stellt man sich noch die Frage, wie effektiv unsere Kontakte waren, bei wie vielen Wahlberechtigten wir auch nur die kleinste Sekunde des Nachdenkens über unsere Positionen erzielen konnten, ein wirkliches Auseinandersetzen mit unseren Argumenten, dann müsste man vermutlich einfach weinen.

Lange Jahre war das in Amerika anders. Die Wahlkampfbudgets im US-Präsidentschaftswahlkampf übertreffen die unseren um mindestens den Faktor 50, die Wahlkampfspots laufen gerade in den Swing States und während der heißen Wahlkampfphase fast rund um die Uhr in TV und Radio. Freiwillige besuchen beachtliche Anteile der Wahlberechtigten an der eigenen Tür und die Online-Kampagnen sind vom Allerfeinsten. Wie weit wir davon weg sind, lässt sich an den neuesten Wahlkampfentdeckungen der letzten bundesdeutschen Wahlkämpfe leicht erkennen: Mal probieren wir Blogs, dann ist es Twitter und zuletzt gibt es erste Tests mit dem Haustürwahlkampf. Nur Experimente, kleine Testballons, die wir mit geringem Aufwand mal ausprobieren, damit wir etwas von Barack Obama gelernt haben. In die Masse ist davon nichts je gegangen, nicht in dem Aufwand, den wir dort hinein gesteckt haben und erst recht nich im Sinne einer Massenwirkung. Und sieht man vom dem scheinbar urdeutschen Plakatwald ab, gilt die eingeschränkte Wirkung nicht auch für nahezu alle anderen Wahlkampfmaßnahmen wie Themenabende und Stände in der Fußgängerzone?

Vielleicht ist das sogar gut, dass wir in Deutschland nie auf diese immensen Wahlkampfbudgets der USA aufgesprungen sind. Denn dort sehen wir dieses Jahr immens deutlicher, im Kleinen aber schon bei den letzten Wahlkämpfen, dass sich Aufmerksamkeit nicht unbedingt kaufen lässt. Hillary Clinton wird bis zum Wahltag mehr als 1 Milliarde Dollar ausgegeben haben, und hat Donald Trump, den vermutlich schlechtesten Kandidaten aller Zeiten, trotzdem nur mit höchster Not auf Distanz halten können. Das ihr entgegen gebrachte Misstrauen und der ein oder andere Aufreger haben völlig gereicht, dieses Budget ins Leere laufen zu lassen. An mangelndem Interesse kann das kaum liegen, denn man muss sich mit jemandem zumindest kurz beschäftigt haben, um ihn so zu verabscheuen, wie Hillary Clinton das erfahren muss. Rückschlüsse lassen sich daraus nur zwei ziehen – und beide sind ähnlich herausfordernd:

  1. Waren entweder die Budgets noch immer zu klein oder wurden in falschen Medien eingesetzt?
  2. Oder wurden die Budgets verschleudert, weil die inhaltliche Ansprache nie durchgedrungen ist?

Es wäre jetzt an der Zeit, sich genauer mit diesen Fragen zu beschäftigen. Denn ob in den USA oder hier in Europa, es muss Aufgabe und eigenes Anliegen der Politik sein, wieder endlich mal eine Mehrzahl der Wahlberechtigten vor allem inhaltlich zu erreichen. Wenn man dann mit seinen Argumenten nicht überzeugen kann, ist das völlig in Ordnung. Aber die Diskussion gar nicht zu erreichen, das ist der wahre Antrieb für Populismus.

Disclaimer: Der Autor ist Mitglied von Bündnis 90/Die Grünen und versucht sich als Dienstleister der Hessischen Grünen schon seit Jahren an effektiverem (Online-)Wahlkampf.

Disclaimer 2: Auf Grund des Stichworts AfD und der damit nicht auszuschließenden Trollflut, sind die Kommentare unter diesem Artikel gesperrt. Über Beleidigungen und andere hilfreiche Hinweise freue ich mich auf Twitter unter @chrstnjng.

Quo vadis, Online-Wahlkampf in Deutschland

Über den Online-Wahlkampf in Deutschland ist viel geschrieben worden. Zu Beginn einer jeden Legislaturperiode äußern sich Kritiker, Onliner, Wissenschaftler und belegen, dass es mal wieder nicht geklappt hat mit dem vorbildlichen Online-Wahlkampf. Gerade hat politik-digital.de dazu eine gute Übersicht mit Blick auf das Jahr 2014 veröffentlicht, die ich hier auch zusammen gefasst habe. Ich will das ganze noch etwas zuspitzen und erklären, warum es dennoch lohnt, weiter daran zu arbeiten. Nicht, um den nächsten Obama (BuzzWord #1) zu finden und auch nicht, um mit einer gelungenen Netz-Kampagne die nächsten 10% an Stimmen zu sammeln. Sondern um wieder mehr Menschen für Politik zu interessieren, was mit keinem anderen Werkzeug so gut funktionieren kann, wie mit dem Internet. 3 Thesen:

1. Online-Wahlkampf ist der falsche Begriff,
es geht um Online-Politikvermittlung

Wahlkampf kennt jeder von uns, die Plakate an den Straßenrändern und Bahnsteigen, die Kugelschreiber und Sonnenschirme in den Innenstädten – bei uns in Hessen sind das eher Schneeschirme, weil wir konsequent im Winter wahlkämpfen – und die unzähligen Ortstermine in Stadthallen, Dorfgemeinschaftshäusern und Bierzelten. All das ist absolut gut und richtig. Menschen zur Wahl zu motivieren, auf den letzten Metern von seinen Positionen zu überzeugen, gehört zu den Grundwerten der Demokratie. Wissenschaft und Umfrageinstitute bestätigen das, Wahlentscheidungen werden immer später gefällt, es gibt viel weniger Lagerbildung als noch zu Zeiten Willy Brandts. Wie auch, wenn die CDU die Energiewende ein bisschen voran treibt und die Grünen an gerechteren Steuerkonzepten arbeiten. Es ist gewissermaßen ein Wohlstandsproblem der deutschen Demokratie in den letzen zwanzig Jahren, wenn es weniger glasklare Parteipräferenzen gibt. Und wenn Wähler von der CDU zur SPD wandern, wenn Grün-Wähler aus Frust Linkspartei wählen und andere zu Hause bleiben, weil ihnen die Wahl nicht mehr wichtig genug erscheint – natürlich zählen dann eben die letzten 6-8 Wochen vor einer Wahl. Seine Ziele klar formulieren, für Unterstützung werben und dafür alles geben, das gehört zur Politik dazu.

Aber mir scheint, dass diese Kampagne nicht so recht in das Internet passen will. Wenn es nicht gerade um die Verfolung von Joseph Kony, Katzenbilder oder Bilder von russischen Dashcams geht, ist das Internet nicht sonderlich nachhaltig. Wie auch, wenn annähernd 4 Milliarden Menschen online sind, allein mehr als 1,3 Milliarden davon auf Facebook. Die Interessen sind zu vielfältig, die Zielgruppen ebenfalls. Und es kommt dazu, dass politisches Interesse im Internet zu bekunden in Deutschland nur bedingt populär ist. Vergleicht man das mit anderen Ländern, gibt es durchaus Unterschiede. Wie viele der eigenen Freunde sind Fan einer Partei-Seite, wie viele davon sind Partei-Mitglieder? Wie sollen dann in den heißen 4 Wochen vor der Wahl politische Botschaften durch das Netz verbreitet werden, wie sollen Themen gesetzt und Debatten angestoßen werden? In der dritten These werde ich noch etwas näher darauf eingehen, wie (und ob) politische Öffentlichkeit derzeit funktioniert. Schauen wir uns die Kritik an den vergangenen Online-Wahlkämpfen auf Bundesebene an, lässt sich das schnell belegen: Die Bürger wurden nicht eingebunden, nicht aktiviert, das Setzen von Themen über Meldungen, über Profil-Bilder auf Facebook, über geteilte Kampagnen hat immer nur in geringem Maße funktioniert.

Lukas Böhm hat in dem bereits erwähnten politik-digital.de Artikel einen Satz geschrieben, der genau das wiedergibt. Zur (ersten) Online-Kampagne von Barack Obama (#2) meint er:

„Selbst Obama hat seinen legendären 2008er Wahlkampf nicht im Internet gewonnen, da ist sich die Wissenschaft weitgehend einig. Wichtiger waren die Hausbesuche bei gezielt ausgewählten WechselwählerInnen, über die die Demokraten riesige Datenbanken besaßen. Big Data also, nicht Facebook.“

Eine Diagnose, die um so mehr für den zweiten, für den Wiederwahl-kampf gilt. Natürlich konnte Obama auch Themen setzen, konnte seine Agenda zum Gegenstand der öffentlichen Debatten auch im Netz machen. Aber fragen wir uns mal ganz ehrlich, gab es dafür nicht auch inhaltlich in Amerika deutlich mehr Potenzial als bei uns? Eine Krankenversicherung haben wir, in teuren und schwer zu vermittelnden Auslandeinsätzen beteiligen wir uns nur bedingt und unsere politische Kaste in Berlin ist sicher deutlich weniger korrupt und selbstgefällig als im schillernden Washington. Obamas Versprechen des „Change“ bewegte Menschen, dann bewegt es sie auch online. Und trotzdem: Obama hat nicht online die Wahl und seine Wiederwahl gewonnen, sondern in den Datenbanken, die seine Unterstützer bestens ausgerüstet an die Haustüren schickten. „Big Data also, nicht Facebook“.

Ich glaube, dass es bei all dem, was wir als Online-Wahlkampf bezeichen, viel mehr um Politikvermittlungen gehen sollte. Wir haben das in der Antwortzeit bei unserer Arbeit für die hessischen Grünen immer so begriffen. Weniger neue, hippe Features, sondern mehr Basics. Wir wollen erst einmal verständlich erklären können, was wir eigentlich wollen. Kurzprogramme, politische Infografiken zum Wahlsystem – viel zu oft hatten die Kampagnen gerade im Bund mehr Geld für iPhone-Apps und eigene soziale Netzwerke übrig, anstatt erst einmal Personen und Programm gebührend vorzustellen. Wenn man den Bürgern schon nicht erklären kann, wen man wofür wählen soll, wie will man sie dann begeistern?

Und dazu braucht es mehr als 4, 6 oder 8 Wochen. Zu erklären, was man als politische Partei erreichen will, warum man das bessere Konzept für die nächsten 4 oder 5 Jahre hat und warum die eigenen Kandidaten dafür am Besten geeignet sind, das ist eine Aufgabe für 4, 6 oder 8 Monate. Das schöne am Internet ist, dass man genau diese Zeiträume dort bespielen kann. Jedenfalls besser und günstiger, als ein halbes Jahr lang Anzeigen in (Online-)Zeitungen und an Straßenecken zu buchen.

2. Wir brauchen keine Digital Natives in der Politik, aber sie helfen

Wenn man wieder die neuesten Features in einem Wahlkampf sucht, das eine Instrument, dass den Unterschied gemacht hat, fehlten uns in Deutschland oft die Politiker die das umsetzen konnten. Blogs in den frühen 2000er Jahren (und jetzt wieder), Facebook und Twitter einige Jahre danach. Zugegeben, da haben deutsche Politiker nicht immer eine gute Figur gemacht – oft war das unbeholfen und ging an den Anforderungen des Mediums vorbei. Und klar, es gibt die jüngeren Leute, die mit den immer neuen Medien auch immer besser umgehen können. Jüngeren Politikern geht es leichte von der Hand, über Twitter zu informieren, was sie gerade tun, Diskussionen suchen sie geradezu. Nicht von der Hand zu weisen, dass das in der politischen Vermittlung im Internet hilft. Aber es gibt auch große Gegenbeispiele – man muss nur an Peter Altmaier und viele andere denken, die ihre Kindheit ohne 56k-Modems und ihre Jugend ohne Online-Foren verbracht haben. Auch die haben es gut hinbekommen und offensichtlich auch mehr oder weniger Spaß dabei gehabt.

Online-Kommunikation ist dabei, wie so oft, gar nicht so unterschiedlich zu der „echten“, „Mensch-zu-Mensch“-Kommunikation. Die gleichen Politiker, die offen auf Leute zugehen können, am Marktplatz-Stand oder in der Kneipe in wenigen Sätzen erklären können, was sie wollen und warum – genau die können das auch online. Das Interesse an den Bürgern und ihren Meinungen ist kein elementares Grundprinzip des Internets, es gehört vielmehr zu jedem guten Politiker dazu.

Man muss an dieser Stelle auch mal eine Lanze für unsere Politiker brechen. Viele, wirklich ein großer Teil von ihnen macht einen großartigen Job mit 80-Stunden-Wochen, 3 freien Wochenenden und einem 2-wöchigen Wanderurlaub im Jahr. Anders als die Peter Gauweilers in diesem Land reiben sie sich auf, gehen nach dem Abgeordneten-Job noch auf Parteitage, in Kreisverbände und mitten rein in die Zivilgesellschaft. Weil sie etwas antreibt, sie Ziele haben, die sie verwirklichen wollen. Solche Politiker sind es, die auch online erfolgreich kommunizieren können. Sie können vermitteln, was sie antreibt und die Bürger erkennen dies an. Und genau für diese Vermittlung ist das Internet das perfekte Medium. Wie sonst soll man mitbekommen, was einer von mehr als 600 Bundestagsabgeordneten die ganze Zeit tut, die Zeitungen berichten schließlich höchstens ausschnittsweise.

Die Generation von jungen Politikern, die wir schon zu den Digital Natives rechnen können, macht das vielleicht im Schnitt besser. Es machen mehr von ihnen mit im Netz, sie sind an den Umgang damit gewöhnt. Deshalb nach mehr Digital Natives in der Politik zu rufen, ist aber verkürzt. Es geht nicht um das Geburtsdatum oder das Beitrittsjahr bei Facebook, sondern um das Interesse am Bürger, den man vertritt. Wenn dann auch die nicht mehr ganz jungen Politiker einen kompetenten Referenten, ein netzaffines Kind oder selbst eine gesunde Neugier haben, können auch sie Online richtig machen.

3. Junge, wir haben ganz schön ‚was aufzuholen

Die dritte These sind eigentlich zwei Thesen, die zusammen gehören. Einmal geht es um das Interesse der Bürger, das – hier wieder der Verweis auf den politik-digital.de-Artikel – im Auge vieler Wahlkämpfer und Politiker einiges zu Wünschen übrig lässt. Zum anderen müssen wir beim Thema Online leider auch über Geld reden. Geld, dass im Wahlkampf für Leuchtturmprojekte verpulvert wird und in den restlichen Jahren fehlt.

Im politik-digital.de-Artikel, der mich erst zum erneuten Nachdenken über dieses Thema brachte, wird über eine brisante Studie berichtet. Darin heißt es:

„Sie [Die Bürger] haben schlicht kein Interesse daran, mit politischen Angeboten im Netz zu interagieren. Zudem finden die User es auch gar nicht schlimm, wenn sie erst gar nicht die Möglichkeit haben, mit den Parteien in Kontakt zu treten. Wie bitte? Es hieß doch immer, das mit dem Online-Wahlkampf klappt nur deshalb nicht, weil es zu wenige Mitmach-Angebote der Parteien gibt. „

Was für eine Aussage, ein Schlag ins Gesicht für jeden Kritiker der bisherigen Online-Wahlkämpfe, die nach immer mehr Dialog und Beteiligung gerufen haben. Aber genauso für die Wahlkämpfer selbst, die in Townhalls und Hangouts die Zukunft der Politik sahen. Dabei haben eigentlich beide recht: Die Studie, weil sie diagnostiziert, dass das politische Interesse in Deutschland nicht das ist, was wir kennen. Egal, ob die Studie nun keine quantitative Methoden anwendet und daher nur bedingt als allgemeinverbindlich angesehen kann: Schauen wir uns in unserem Bekanntenkreis um, bei denen, die nicht Mitglied einer Partei sind. Gibt es dort wirklich ein Interesse an Politik? Oder geht es nur um vereinzelte politische Inhalte? Selbst im gutbürgerlichen Umfeld, zwischen ZEIT-Lesern und Uni-Absolventen kann man diese Frage nicht so schnell beantworten, wie man es sich wünscht. Und wie groß ist der Bevölkerungsanteil, den man so beschreiben kann?

Aber es haben eben auch die Wahlkämpfer recht. Politik braucht mehr Beteiligung, und ja, das klappt eben auch im Internet viel einfacher und für (fast) jeden erreichbar. Jetzt auch noch über Online-Partizipation ausführlich reden zu wollen, würde zu weit führen, aber auch hier verkürze ich auf die Aussage: Dialog und Beiteiligung sind wichtig und sollten bereits jetzt mehr gefördert werden. Gleichzeitig aber muss bei der Bevölkerung erst einmal überhaupt Verständnis und Interesse für Politik geweckt werden. Ohne das werden letztendlich auch alle Hangouts keinen Fuß auf den Boden bekommen.

Und damit kommen wir zum zweiten Teil der These: Wir müssen über Geld reden. Natürlich ist das ein Thema, dass man als Inhaber einer Agentur gerne anspricht, aber das ist nicht der Punkt. Die Budgets von Online-Kampagnen in den vergangenen Wahlkämpfen sind schwer zu bestimmen – manchmal gehörten die Online-Werbebudgets dazu, manchmal haben sich Agenturen vielleicht etwas zu gut bezahlen lassen. Die Konsequenz aus diesem Text aber wäre, viel mehr auf die Budgets zwischen den Wahlen zu schauen. Wenn man wirklich die Bürger erstmal (wieder?) für Politik begeistern muss, ihr Interesse an den Zusammenhängen wecken und ihnen vermitteln, wie sehr politische Entscheidungen ihren Alltag beeinflussen und wie viel Einfluss sie darauf haben – dann kann das eben nicht mitten im Wahlkampf passieren.

Es geht viel mehr um die Vermittlung von Politik dann, wenn Politik passiert: In der Legislatur, in den Ausschüssen, in Enquete-Kommissionen (rund um die Enquete Digitale Gesellschaft ist da beispielsweise viel Gutes passiert). Und machen wir uns keine Illusionen, das können die Abgeordneten nur bedingt selbst leisten. Es braucht mehr Mitarbeiter, die sich nur mit der Vermittlung beschäftigen, sogar unabhängig von den Medien. Eine ausführliche Zeitungs-Story über die Arbeit eines Abgeordneten kann genau so helfen, wie ein kontinuierlich geführtes Blog. Bisher ist dafür zu wenig Geld und Bewusstsein da. Das meint nicht, dass das Internet weniger Geld bekommt als die „klassische“ Kommunikation. Denn nochmal: es geht dabei nicht um die Kanäle. Der Grundgedanke der bürgernahen, in verständlicher Sprache betriebenen Kommunikation, gehört in jede Fraktion und in jeden Landes- oder Bundesverband.

tl;dr

  1. Habt den Mut, Politik immer und immer wieder zu erklären. Vor dem Wahlkampf, im Wahlkampf und auch danach (zum Beispiel während der Koalitionsverhandlungen).
  2. Ermuntert jeden Abgeordneten dazu, seine spannenden Arbeit und das was ihn antreibt mehr in die Öffentlichkeit zu rücken. Kommuniziert nicht nur über die brennenden Themen des Nachrichtentages, gerade das Internet bietet euch jede Menge Platz dafür.
  3. Stellt den Politikern Mitarbeiter an die Seite, die genügend Zeit und Begeisterung mitbringen, um sowohl im Netz, als auch auf Papier und im Fernsehen immer wieder um Aufmerksamkeit zu ringen.
  4. Sagt euch los von den verkürzten Online-Wahlkampf-Betrachtungen der letzten Jahren. Es geht nicht um das Tool, es geht nicht mal um Online an sich. Und schon gar nicht geht es um die 6 Wochen vor der Wahl. Wirklich wirksame Politikvermittlung ist, geklaut bei Max Weber, das Bohren (sehr) dicker Bretter.

(Wieder kein) Online-Wahlkampf in Deutschland? tl;dr für Lukas Böhms Artikel auf politik-digital.de

Drüben bei politik-digital.de hat Lukas Böhm sich die ersten Studien zum Online-Wahlkampf für die Bundestagswahl 2013 angesehen und kommt zu ernüchternden Schlüssen. Sowohl über den Online-Wahlkampf selbst, als auch dessen Rezeption. Weil der Text wirklich lang ist, erlaube ich mir hier mit Zitaten ein tl;dr, empfehle aber dennoch eine volle Lektüre.

  1. „Was die deutschen Parteien und ihre Wahlkampfteams seit mittlerweile nicht mehr ganz so wenigen Jahren im Netz betreiben, wirkt langsam wie ein Anrennen gegen eine „Self-fulfilling Prophecy“. Egal ob 2005 oder 2009, die Parteien schafften es nicht, das neue Medium öffentlichkeitswirksam für sich zu nutzen.“
  2. „Das Bild scheint von vornherein klar: Da bemüht sich doch nur ein Haufen seniler Politiksäcke im Internet auf Jung zu machen und ein paar WählerInnen abzugreifen. Auch wenn diese Formulierung polemisch ist: Häufig kam der Eindruck auf, dass da die selbsternannten „Digital Natives“ ihre Pfründe verteidigen, nach dem Motto: Was habt ihr alten Politiker-Immigrants in unserem Netz zu suchen?“
  3. „Dabei hatten sich die WahlkämpferInnen bei genauerem Hinsehen auch schon 2009 einige Mühe gegeben. Die Parteien waren durchweg bei Facebook und den VZ-Netzwerken (Wer erinnert sich noch?) vertreten, twitterten und unterhielten Online-Plattformen, auf denen UnterstützerInnen sich austauschen und koordinieren konnten. Alle Parteien bespielten bereits YouTube-Kanäle, und die SPD unterhielt sogar eine eigene Wahlkampf-App („iSPD“). Wirkt doch gar nicht so nach Steinzeit, oder?“
  4. „2013 kam – und ging. Peer Steinbrücks Stinkefinger bleibt in Erinnerung, allerdings kaum im Sinne seines Besitzers. Ob Merkel-Raute oder der verhängnisvolle „Neuland“-Satz: Die NutzerInnen im Web hatten an allem zwischen schneller Online-Satire und öffentlicher Bloßstellung mehr Spaß als an den Online-Angeboten der Parteien. Die sich 2013 wiederum sehen lassen konnten.“
  5. „Die Parteien wollen mit ihren potentiellen WählerInnenn kommunizieren. Hurra! Note: 1! Das Problem ist nur: Die NutzerInnen wollen das nicht. Sie haben schlicht kein Interesse daran, mit politischen Angeboten im Netz zu interagieren. Zudem finden die User es auch gar nicht schlimm, wenn sie erst gar nicht die Möglichkeit haben, mit den Parteien in Kontakt zu treten.“
  6. „Die Politik, so lässt sich zumindest für 2013 feststellen, macht online mittlerweile mehr richtig als falsch. Dass es trotzdem nicht klappt, die Machtverhältnisse damit aus den Angeln zu heben, kann zu einer Reihe wichtiger Erkenntnisse führen.“
    1. „Die wichtigste wäre die, dass das Internet als Wahlkampfinstrument überschätzt wurde.“
    2. „Die Internet-Stimmung zeigt Trends auf, kann diese aber auch massiv verzerren“
    3. „Selbst Obama hat seinen legendären 2008er Wahlkampf nicht im Internet gewonnen, da ist sich die Wissenschaft weitgehend einig. Wichtiger waren die Hausbesuche bei gezielt ausgewählten WechselwählerInnen, über die die Demokraten riesige Datenbanken besaßen. Big Data also, nicht Facebook.“
    4. „Es ist die Pflicht der Politik, auch online Angebote zu schaffen, neue Wege zu gehen und sich immer wieder um passive Gruppen zu bemühen. Dass diese Angebote aber auch genutzt werden, ist nicht nur eine Frage des Internets, verstanden als reine Technologie. Es ist eine Frage von Zugängen, von schulischer und gesellschaftlicher Bildung, von Kompetenz – und auch von Gelegenheit.“

Hier nochmal der Link zum vollen Text: politik-digital.de/online-wahlkampf-was-sollen-wir-eigentlich-noch-machen/. Danke an den Herausgeber für die freundliche Genehmigung.

Microtargeting – Wahlkampf mit Datensätzen

Kaum ein Thema der letzten beiden US-Präsidentschaftswahlkämpfe hat die Beobachter hierzulande so sehr begeistert wie die Internetaktivitäten der Kandidaten. Es geht um Apps, Social Media und Mobilisierungsnetzwerke. Nur selten rücken dabei jedoch die Datenbanken als Fundament solcher Netzaktivitäten in den Vordergrund. Dabei spielen die Datenbanken der Parteien bereits seit Jahrzehnten eine nicht zu unterschätzende Rolle in amerikanischen Wahlkämpfen.

Sowohl Republikaner als auch Demokraten pflegen umfangreiche Datenbanken mit Informationen über die wahlberechtigte Bevölkerung. Die Parteien versprechen sich davon, potentielle Wähler zu erkennen und mit den passenden Botschaften und Themen anzusprechen. Durch den Siegeszug des Computers und des Internet haben die Datenbanken in den Parteizentralen einen regelrechten Aufschwung erlebt und wurden spätestens im US-Präsidentschaftswahlkampf 2008 auch für eine größere Öffentlichkeit sichtbar.

Intelligente Algorithmen

So sorgte Barack Obama 2008 für einige Aufmerksamkeit, als er Microtargeting einsetzte – also die zielgenaue, themenspezifische Wähleransprache-, indem er seine freiwilligen Helfer Millionen von Daten sammeln ließ. Während Microtargeting bei Google zu passenden Suchergebnissen und passender Werbung führt, sind es im politischen Bereich die auf die Einzelperson zugeschnittenen Spendenaufrufe und Themenansprachen. Intelligente Algorithmen helfen außerdem dabei, Voraussagen über das Spendenverhalten, die Wahlbeteiligung und das Engagement zu treffen und damit die Ansprache zu optimieren.

Nach 2008 werden auch in diesem Jahr wieder freiwillige Helfer von Obama rekrutiert, um Daten zu sammeln. Auf der Internetplattform call.barackobama.com kann sich quasi jeder im Auftrag von Obama als Telefonunterstützer betätigen. Dazu wird den Unterstützern vom System vollkommen automatisch die Telefonnummer eines potentiellen Wählers zugewiesen. Dieses Telefonat kann direkt auf der Internetseite dokumentiert werden. Auf diese Weise ist bereits im vergangenen Wahlkampf ein umfangreicher Datenberg entstanden, der Obama in diesem Wahljahr einen nicht zu unterschätzenden Vorsprung gegenüber seinem Konkurrenten Mitt Romney verschafft hat.

Der gläserne Wähler

Doch nicht nur auf die selbsterhobenen Daten wird zurückgegriffen, sondern auch sogenannte Data-Mining-Dienstleister kommen zum Einsatz. Dadurch gelangen die Kampagnenstrategen an für ihre Zwecke sehr wertvolles Wissen darüber, was potentielle Wähler einkaufen, wo sie wohnen, welche Autos sie fahren, was sie lesen und womit sie sich in ihrer Freizeit beschäftigen. Das Verknüpfen solcher kommerziellen Daten mit den eigenen Daten ist zwar auch in den USA nicht gern gesehen, aber scheinbar inzwischen gängige Praxis.

Die Wähleransprache hat sich also grundlegend verändert. Vorbei sind die Zeiten, in denen TV-Werbung und Postwurf-Aktionen alleine ausreichten. Vielmehr wird in immer stärkerem Maße versucht, die Wähler persönlich und möglichst individuell anzusprechen. Der gläserne Wähler ist in den USA also Realität geworden.

Dieser Artikel erschien zuerst bei politik-digital.de und ist Teil der Themenserie zur US-Wahl 2012.