Nachindustrielle Politik

Der Tagungsband ‚Soziale Netze in der digitalen Welt – das Internet zwischen egalitärer Teilhabe und ökonomischer Macht‘ wirft in zwei Aufsätzen eine interessante Debatte über Bürgerbeteiligung und Entscheidungsfindung im politischen System auf. Eine Kurzrezension.

Es ist schon verblüffend, wie sehr unser politisches System einem industriellen Bild von Produktion und Konsum entspricht. Massenprodukte von großen Firmen und Nischenprodukte kleinerer Anbieter werden konzipiert und produziert in abgeschlossenen Führungsetagen, verteilt durch den journalistischen Vertrieb und konsumiert durch eine große Anzahl von Menschen.

Axel Bruns bringt diese Analogie auf eine neue Ebene, indem er die nachindustrielle Produktion im Social Web, für die er den treffenden Begriff „Produsage“ (Produtzung, die deutsche Übersetzung leidet etwas an der Phonetik) eingeführt hat, auf die Politik überträgt. Demnach könne auch Politik gemeinschaftlich erstellt und genutzt werden, sich vom Gedanken der Trennung von Konsum und Produktion verabschieden. Als Bedingungen nennt er dafür: Transparenz, spontane Meritokratie, Bekenntnis zum unfertigen Prozess und kollektiver Nutzen.

Uwe Jun hält mit einer Reihe von Argumenten gegen Bruns‘ Modell von politischer Herrschaft durch Beteiligung der Nutzer/Bürger. Der triftigste scheint für ihn aber die politische Entscheidungsfindung an sich zu sein, die nur durch die Bündelung in Parteien zu realisieren sei. Die Funktionen von Parteien, also Regierungsbildung, Personalrekrutierung und vor allem Meinungsaggregation sieht er nicht in einer produtzten Politik.

Wie aktuell der Band auch sein mag, es fehlt das offensichtlichste Untersuchungsobjekt für Politik mit nachindustriellem Charakter: Der diesjährige Aufstieg der Piratenpartei bietet sich zur Analyse geradezu an. Eine Partei, von ihrem Erfolg fast überwältigt, die auf der Suche nach einer Strukturierung ihrer Arbeit ist, die Schlagkräftigkeit aus Wikis und Blogs generieren kann. Die Debatte Bruns/Jun würde hier auf eine neue Ebene gehoben, wenn nicht gleich ein ganzes politisches System der Mehrparteiendemokratie auf dem Prüfstand stände, sondern eine Anpassung desselben. Kann nicht eine Partei durch „Produsage“ funktionieren?

sozialenetzeChristoph Bieber, Martin Eifert, Thomas Groß, Jörn Lamla (Hg.)
Soziale Netze in der digitalen Welt
Das Internet zwischen egalitärer Teilhabe und ökonomischer Macht

Erscheinungstermin: 09.11.2009
EAN 9783593390130
329 Seiten, € 32,90

»Web 2.0« ist eine Chiffre für soziale Netzwerke im Internet. Es ermöglicht neue Formen der Interaktion im virtuellen Raum, wobei potentiell jeder zum Sender von Inhalten werden kann. Blogs, Wikis oder Videoplattformen suggerieren somit eine egalitäre Teilhabe am Medium des Internets. Die Autoren stellen dar, inwiefern diese neuen Formen der Generierung und Verbreitung von Inhalten immer auch in soziale, ökonomische und juristische Kontrollstrukturen eingebunden sind.

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Zweiklassensystem im Internet

Die Gesellschaft mit allen ihren Eigenarten wird im Internet digitalisiert und fortgeführt. So sieht es zumindest dana boyd [sic!]. Die Kommunikationswissenschaftlerin sprach Ende Juni im Rahmen ihrer Keynote beim diesjährigen Personal Democracy Forum in New York von einem Zweiklassensystem („second class citizenship“), welches im Internet immer stärker zu beobachten sei. Unter dem Titel „The Not-So-Hidden Politics of Class Online“ beschäftigte sich boyd mit der Frage, welche Rolle Social Network Sites für öffentliche Kommunikation spielen. Sind die Plattformen in der Lage Brücken zwischen den verschiedenen Teilen der Netzbevölkerung zu errichten oder reißen sie die Gräben eher noch weiter auf? Boyd verglich dazu die beiden in den USA reichweitenstärksten sozialen Netzwerke MySpace und Facebook. In Befragungen von mehreren hundert Jugendlichen stellte sich heraus dass die sozialen Umgebungen des Internet stärker mit realweltlichen Gesellschaftsbereichen vergleichbar sind, als bisher gedacht. So ist MySpace für viele der Befragten mit einem “ghetto” vergleichbar, während Facebook wiederum eher die „honors-kids“ miteinander verbinde.

boyd: „MySpace has become the „ghetto“ of the digital landscape.“

Die von boyd interviewten Jugendlichen fassen die Situation folgendermaßen zusammen:

Kat (14, Mass.): „I’m not really into racism, but I think that MySpace now is more like ghetto or whatever, and Facebook is all… not all the people that have Facebook are mature, but its supposed to be like oh we’re more mature. … MySpace is just old“.

Anastasia (17, New York): „My school is divided into the ‚honors kids,‘ (I think that is self-explanatory), the ‚good not-so-honors kids,‘ ‚wangstas,‘ (they pretend to be tough and black but when you live in a suburb in Westchester you can’t claim much hood), the ‚latinos/hispanics,‘ (they tend to band together even though they could fit into any other groups) and the ‚emo kids‘ (whose lives are allllllways filled with woe). We were all in MySpace with our own little social networks but when Facebook opened its doors to high schoolers, guess who moved and guess who stayed behind… The first two groups were the first to go and then the ‚wangstas‘ split with half of them on Facebook and the rest on MySpace… I shifted with the rest of my school to Facebook and it became the place where the ‚honors kids‘ got together and discussed how they were procrastinating over their next AP English essay“.

Vor diesem Hintergrund kann nicht von einer allgemeinen miteinander verbundenen Netzöffentlichkeit gesprochen werden. Die sozialen Netzwerke stellen räumlich voneinander getrennte Plattformen dar, die es den einzelnen Nutzern nicht ermöglichen miteinander zu kommunizieren. Im Internet sind also verschiedene Treffpunkte entstanden. Damit platzt auch seifenblasenähnlich die von deutschen Politikern gerne zitierte „Netzcommunity“ als Allgemeinheit der Nutzer im Internet. Nach boyd gibt es keine „universal public online”.

“ There is no universal public online. What we see as user „choice“ in social media often has to do with structural forces like homophily in people’s social networks. Social stratification in this country is not cleanly linked to race or education or socio-economic factors, although all are certainly present. More than anything, social stratification is a social networks issue. People connect to people who think like them and they think like the people with whom they are connected. The digital publics that unfold highlight and reinforce structural divisions.”

Anders als Emails sind soziale Netzwerke wie MySpace und Facebook räumlich getrennt voneinander und können nicht miteinander verbunden werden.

“Social network sites complicate this even further. Social network sites are not like email where it doesn’t matter if you’re on Hotmail or Yahoo. When you choose MySpace or Facebook, you can’t send messages to people on the other site. You can’t Friend people on the other site. There’s a cultural wall between users. And if there’s no way for people to communicate across the divide, you can never expect them to do so.”

In ihrer Untersuchung beschäftigte sich boyd jedoch nur mit der US-amerikanischen Situtation weshalb die Frage nahe liegt, ob eine ähnlicher Vergleich auch in Deutschland mit den inzwischen etablierten sozialen Netzwerken möglich ist? Kann man zu ähnlichen Ergebnissen kommen, wenn man die beiden unter jungen Erwachsenen besonders beliebten sozialen Netzwerke StudiVZ und Facebook betrachet? Spaltet sich die die  deutsche Studierendenschaft also in StudiVZ- und Facebook-Anhänger? Ebenso zentral bleibt in Deutschland die Frage nach regionalen Unterschieden (bspw. Lokalisten vs. Wer kennt wen).

Nichtmitglieder bevorzugt

Die Grünen mögen offensichtlich ihre parteilosen Unterstützer lieber als ihre eigenen Mitglieder. Auf die Idee könnte man jedenfalls kommen, wenn man die Sozialen Netzwerke miteinander vergleicht, die für beide Gruppen gesondert geschaffen wurden. Das Grüne „Wurzelwerk“ für diejenigen mit Parteibuch ist seit mittlerweile fast zwei Wochen wegen schwerwiegender Mängel vom Netz gestellt. Das Netzwerk für die Unterstützer heißt „Meine Kampagne“ und erschien am Freitag in bunter Farben- und Funktionspracht, ganz ohne mit lästigen technischen Problemen zu nerven.

fireshot-capture-20-bundnis-90_die-grunen-bundespartei-meine-kampagne-www_gruene_de_meine-kampagne_htmlDie Unterstützer können in der frühen Phase des Wahlkampfs schon die Wahlkämpfer-Rüstung anziehen und der Partei ihre Daten zur Verfügung stellen. Ganz gezielt können sie dabei auswählen, welche Information die Geschäftsstelle wie verwenden darf. Mit einer so detaillierten Steuerung liegt die Seite bei Datenschützern weit vorne.

Bestimmte Aktionen wie eine Unterschriftenliste für den „Green New Deal“ oder die schon bekannte „Meine Daten gehören mir“-Kampagne finden sich jetzt unter dem Dach des Netzwerks vereint. Außerdem können die Unterstützer die Informationen bestimmter Themenbereiche getrennt abonnieren und werden bei startenden Aktionen benachrichtigt.

Etwas undurchsichtig sieht noch der Community-Teil des Netzwerks aus. Wollen die Grünen wirklich auf eine Vernetzung der Unterstützer verzichten, wie es bisher den Anschein hat? Jedenfalls lassen sich in den Seiten des Unterstützernetzwerks weder Profile anlegen, noch nach andere Mitgliedern suchen oder sich in Gruppen zusammen finden.

Vielleicht liegt es ja daran, dass das Netzwerk für Unterstützer besser läuft, als das für Parteimitglieder. Vielleicht liegt die Stabilität ja schlicht darin begründet, dass das Netzwerk … gar kein Netzwerk ist.

Screenshots: gruene.de

Zum Abschluss des Netzwerk-Barometers

Sechs Wochen nach der Landtagswahl in Hessen haben wir die Aktualisierung des Netzwerk-Barometers eingestellt. Wir hoffen in den letzten Wochen einen interessanten und aufschlussreichen Überblick über die Performance der hessischen Spitzenkandidaten in den bekannten Social Networks gegeben zu haben.
Es wird deutlich, dass nach dem Wahltag am 18. Januar 2009 starke Entwicklungen zu verzeichnen waren. Nun scheint es jedoch ruhiger um die Profile der hessischen Spitzenkandidaten geworden zu sein. Trotzdem lohnt sich ein abschließender Blick:

Interview mit Dr. Christoph Bieber zum Abschluss des hessischen Netzwerk-Barometers

dr-christoph-bieber

Welchen Nutzen hatten und haben die Unterstützer für die Kandidaten?

Dr. Bieber: Das ist schwer zu sagen – wie man aus den Kampagnenumfeldern hört, war eine Vielzahl der Unterstützer nicht in Hessen wahlberechtigt. Die Zahl der Wählerstimmen dürfte sich so also nicht unbedingt erhöht haben. Ein wesentlicher Nutzen sind aber natürlich die Kontaktdaten der „Freunde“ bzw. „Follower“: in der nächsten Zeit werden sicherlich einige Anfragen und Aussendungen an die Unterstützer versendet werden. Für die Europa- und die Bundestagswahl kann so allmählich ein größerer Datenbestand aufgebaut werden. Weiterlesen

Freunde – auch nach der Wahl?

Gastbeitrag von Dr. Christoph Bieber zum Abschlussstand des „Netzwerk-Barometers“ von Homo Politicus.

tsg

Für etwas mehr als zwei Wochen hat das Netzwerk-Barometer die Aktivität der hessischen Online-Kampagnen auf verschiedenen „Social Network Sites“ begleitet und aufgezeichnet – das Ergebnis stellt zwar nur einen kleinen Ausschnitt dieser neuen Episode im Internet-Wahlkampf dar, liefert aber durchaus schon einige interessante Resultate.

In sämtlichen Online-Netzwerken, den Kommunikationsdienst Twitter hier einmal mit eingeschlossen, hat die Zahl der Freunde, Unterstützer und Follower kontinuierlich zugenommen. Allerdings mit unterschiedlicher
Dynamik: während StudiVZ und Facebook vergleichsweise „flache“ Zuwachsraten aufweisen, haben sich Wer-kennt-Wen und Twitter als die Netzwerke mit den größten Zuwachsraten entpuppt. Gerade in den letzten Tagen vor der Wahl haben dabei offenbar erste „Netzwerkeffekte“ gegriffen: höhere absolute Unterstützerzahlen führen auch zu einem schnelleren Wachstum – sehr gut zu sehen etwa bei Thorsten Schäfer-Gümbel, der am Wahlwochenende täglich mehr als einhundert neue Freunde bzw. Follower hinzugewonnen hat. Auch nach der Wahl steigen die Kurven weiter an, allerdings vermutlich nur dann, wenn auch die Netzwerkplattformen auch weiterhin mit Inhalten, Nachrichten und Kommentaren versorgt werden.

gruene1

Im bislang nur zwischen SPD und Grünen möglichen Parteienvergleich (das Facebook-Profil von Roland Koch wird in Kürze in das Netzwerk-Barometer aufgenommen) zeigen sich auch leichte Unterschiede, die mit Blick auf die Nutzerdemografie näher zu untersuchen wären: während „TSG“ bei Wer-kennt-Wen den Spitzenwert mit knapp zweieinhalbtausend Freunden erzielt und Facebook (877 Freunde/674 Unterstützer) sowie StudiVZ (837 Freunde), ist Kordula Schulz-Asche vor allem bei Facebook erfolgreich – allerdings auf deutlich niedrigerem Niveau (443).

Spannend bleibt in den nächsten Tagen die Reaktion auf das bislang verhaltene Online-Echo auf den Wahlabend – mit nur wenigen Ausnahmen haben sich die Spitzenkandidaten vor allem in den alten Medien zum Wahlergebnis geäußert. Am Tag nach der Wahl dominieren offenbar die parteiinternen Gremien und Entscheidungsprozesse – das Netz muss warten. Man wird sehen, wie Freunde und Follower auf diese leichte „Vernachlässigung“ reagieren werden. Vielleicht nicht unbedingt mit der Aufkündigung der digitalen Freundschaft, aber vermutlich doch mit der ein oder anderen Nachfrage, ob das Internet denn doch wieder nur als Wahlkampf-Gimmick herhalten musste.

Dr. Christoph Bieber ist wissenschaftlicher Assistent an der JLU Gießen und beschäftigt sich mit den Auswirkungen der Neuen Medien auf politische und gesellschaftliche Prozesse. Zu seinen Veröffentlichungen zählen unter anderem Publikationen zum Thema Online-Wahlkampf, die Zukunft der Mediendemokratie und Interaktivität. Dr. Bieber betreibt das Blog Internet und Politik.